Elephants in Rooms – Monitor 6

Simon Will (Berlin/Esquinzo, Fuerteventura – O-Ton: Englisch)

Wir befinden uns in einem von diesen Historiendramen, und zwar gerade an der Stelle, an der die Hauptfigur einen tief empfundenen Moment der Einkehr und Melancholie erlebt. Wie üblich geht die Figur ans Fenster und schaut in die weite Landschaft hinaus – gedankenverloren, voller unterdrückter Gefühle. Meistens wird das von Musik untermalt. Wenn ein Orchester das begleitet, sind Worte überflüssig. Die Figur braucht dann nicht mehr zu sagen: „Oh, mein Leben! In was für einer Welt lebe ich bloß!“

Unser Historiendrama aber spielt in der Gegenwart. Das ist etwas ungewöhnlich, denn die Gegenwart ist ja noch nicht vergangen und darum ist sie auch nicht anerkannt als historisches Zeitalter. Es muss erst etwas passieren, etwas Großes, damit dieser Augenblick von der Zukunft abgrenzt wird. Wenn das geschieht, können wir zurückschauen und uns an die Zeit erinnern, als… Bald wird etwas geschehen, und dann sind wir in einem echten Historiendrama.

 

Das Gebäude hier, auf das ich schaue, wurde erst vor zwei Jahren gebaut. Zur gleichen Zeit hatte ich gerade einen Räumungsbescheid erhalten. Mein Vermieter wollte, dass ich aus der Wohnung ausziehe, in der ich mein halbes Leben gewohnt habe. Ich hatte mal eine wunderschöne Aussicht, ich konnte bis zum Horizont sehen. Ich konnte in meinem Elfenbeinturm sitzen, in die Welt hinausschauen und meinen Platz in ihr spüren.

Aber heute sehe ich nur noch diesen großen grauen Elefanten von einem Gebäude und ich schreibe meinem Anwalt, in der Hoffnung das Verfahren gegen meinen heimtückischen Vermieter zu gewinnen, gegen den Hausbesitzer, der mich rauswerfen will, nun, wo die Gegend gentrifiziert ist und er die dreifache Miete erhalten könnte.

Hausbesitz, Landeigentum und Mietzins – das klingt nach 18. Jahrhundert, nicht wahr? Gute Zutaten für ein Historiendrama sind also vorhanden. Und ich muss jetzt nur noch da rausgehen und mich ins Umland stürzen, und hoffen, dass mich jemand in seinen Armen auffangen wird. Ein gutaussehender Unbekannter, der mich rettet, mich an einen neuen Ort bringt, damit ich wieder eine wunderschöne Aussicht habe und weiter über die Welt nachsinnen kann. Das steht mir schließlich zu!

 

Wenn wir mit Papa Tee trinken, dann reden wir nicht über Mama.

Und wenn wir mit Mama Tee getrunken haben, haben wir nie über Papa gesprochen.

Und wir haben nie über das Baby gesprochen.

Über den Bruder oder die Schwester, die nie geboren wurden.

Es ist zu schmerzhaft. Wir haben nie darüber gesprochen.

 

Ohne unser Talent in Frage zu stellen zeichnen wir jetzt ein Selbstporträt. Oder auch ein Selfie, wie es heutzutage gern genannt wird.

 

Bastian Trost (Berlin – O-Ton: Deutsch)

Ich ziehe jetzt ein Kleidungsstück an, das ich selber hergestellt habe… Also teilweise zumindest. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, los!

 

Ich schaue hier in den Osten.

Da hinten ist der Osten. Hinter den Häusern, da vorne, ist die Grenze gewesen. Die Mauer.

Ich schaue quasi vom Westen in den Osten. Also nur ein paar hundert Meter von hier sind die Grenzsoldaten langgelaufen, in ihrer Uniform.

Jetzt guckt mich nur noch diese Pappel an. Die Pappel hat sie alle gesehen wahrscheinlich, die ganzen Soldaten. Das ist eine Pyramidenpappel, eine Silberpappel.

Auf Pappelholz ist auch die Mona Lisa gemalt.

Ich schaue auf ‘ne Pappel und ‘ne ehemalige Grenze.

 

 

Macht die Pferde bereit!

Macht die Pferde bereit, wir gehen aus! Sattelt die Pferde!

Macht die Pferde bereit, wir gehen los!

Wo sind die Pferde?

Wo sind die Pferde?

Wenn sie uns alles wegnehmen, dann bleiben uns immer noch… die Pferde.

 

Sharmistha Saha (Bombay – O-Ton: Englisch, Bengali und Hindi)

Von meinem Fenster aus sehe ich die Wolkenkratzer von Bombay.

Von meinem Fenster aus sehe ich eine Moschee.

Von meinem Fenster aus sehe ich Slums.

Von meinem Fenster aus sehe ich die letzten Überbleibsel des gerodeten Waldes.

 

Wie spricht man über den Schmerz, wenn man verliebt ist? Wie spricht man über die Liebe zum eigenen Kind? Ist das nicht der Elefant im Raum? Die feministische Haltung auf der einen Seite und der physische Schmerz auf der anderen Seite – und gleichzeitig dazu die Liebe zum Kind. Wie liebt man seinen Partner, wenn man alle Facetten patriarchaler Gewalt erlebt hat? Es fällt schwer, über diesen Schmerz zu sprechen, wenn man verliebt ist. Oh, mein Kleines; oh, mein Kleines; oh, mein Kleines; oh mein… Mein Kleines. Teil des Mondes. Mein kleiner Frosch, mein kleiner Frosch. Wohin springt mein kleiner Frosch? Er will zu seiner Mutter.

 

Sie singt ein bengalisches Wiegenlied:

Die Tanten, die den Schlaf schenken, kommen uns besuchen. Es gibt keine Betten. Setzt euch, ich bringe euch Betelpfeffer. Greift zu. Mein Kleines findet keinen Schlaf; schenkt ihm Schlaf.

Die Tanten, die den Schlaf schenken, kommen uns besuchen. Es gibt keine Betten. Setzt euch, ich bringe euch süße Pithe. Greift zu. Mein Kleines findet keinen Schlaf; schenkt ihm Schlaf.

Die Tanten, die den Schlaf schenken, kommen uns besuchen. Es gibt keine Betten. Setzt euch, ich bringe euch Betelpfeffer. Greift zu. Mein Kleines findet keinen Schlaf; schenkt ihm Schlaf.

 

Anuja Ghosalkar (Bangalore –  O-Ton: Englisch)

Ich werde jetzt eine Minute lang schluchzen.

 

Worüber niemand beim Teetrinken spricht…

Die Dinge, über die man beim Teetrinken nicht spricht…

Die Untertasse unter der Teetasse.

Den Preis von nicht ganz so süßem Zucker.

Den Teeverkäufer, der keine Pause nimmt, um selbst zu nippen.

Die Teetasse, die an viele Lippen geführt wurde, bevor meine sie berühren.

Die Flecken auf dem Boden der Teetasse, die mich daran erinnern, dass jemand vor mir hier war.

Das Gewicht der leeren Teetasse, das sich anfühlt wie das Gewicht der Einsamkeit und die Leere in meinem Leben.

 

Ich hab den zuckrigen Keks zum Einweichen in den heißen Tee getunkt, dabei sollte er nicht völlig breiig werden und sich nicht unwiderruflich in den Tiefen der Teetasse auflösen. Dieses Spiel aus heißem Tee, weichem Keks, weichem Tee und heißem Keks hat mir als Fünfjährige viel Freude bereitet. Ich hab dieses Spiel geliebt. Heißer Tee, weicher Keks. Weicher Tee, heißer Keks. Aber ich habe mich oft beschwert: „Ich mag keine Milch. Von Milch muss ich mich übergeben.“ Aaji (Großmutter) hat uns Tee gekocht – nur, damit wir Milch trinken. Sie hat ganz ernst behauptet: „Tee ohne Milch ist schwarz. Und wenn man schwarzen Tee trinkt, dann wird man… Nun ja, dann wird man Schwarz.“ Als Fünfjährige hat mich das verdutzt, aber ich hab mir einen Reim darauf gemacht: „Schwarzer Tee, weiße Milch, weiße Milch, schwarzer Tee, trink den Tee für den Zucker, Keks weg, noch einen Keks, weiße Milch, schwarzer Tee, schwarze Milch, weißer Tee, trink den Tee für den Zucker, Keks weg, noch einen Keks, schwarze Milch, weißer Tee, weiße Milch, schwarzer Tee, weißer Tee, schwarze Milch, trinkst du schwarzen Tee, dann wirst du Schwarz.“

 

Simon Will (Berlin/Esquinzo, Fuerteventura – O-Ton: Englisch)

Ich warte auf die Ankunft meines Retters.

 

Ich sehe Leute, die ein Ziel vor Augen haben.

Ich sehe die Fenster anderer Leute.

Anderer Leute Aussichten.

Ich sehe Wolken.

Dicke, graue Wolken.

 

Sattelt die Pferde!

 

Johanna Freiburg (Berlin – O-Ton: Deutsch)

Von da aus, wo ich stehe, sehe ich einen Geldautomaten, der vor meinem Haus neu aufgestellt wurde – einsatzbereit.

Ich sehe Autos, deren Besitzer und Besitzerinnen bereit sind, für Parkflächen zu zahlen, die hinter verschlossenen Toren sind – weil sie glauben, dass sie so ihr Eigentum schützen können.

Ich sehe eine große Lücke, wo einmal ein sehr großer Kastanienbaum gestanden hat. Eines Morgens ist er einfach umgefallen. Und ich bin von dem Geräusch des umfallenden Baumes aufgewacht.

Ich sehe mich selbst in den verspiegelten Fenstern des Bürohauses gegenüber. Und in meiner eigenen Fensterscheibe.

Während ich weiter aus dem Fenster schaue und Tee trinke, werde ich die Ungeduld in mir wachsen lassen, bis sie eines Tages so groß ist, dass sie aus mir herausbricht.

 

Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass uns beigebracht wurde, uns an Dingen zu erfreuen, die nicht uns gehören. Wir kommen aus einer Hafenstadt, deren Wohlstand aus fernen Ländern stammt. Als Kind haben wir sehr viele Stunden damit zugebracht, zum Zeitvertreib Schätze zu betrachten, gestohlene Schätze. Muscheln aus der Südsee, Statuen aus afrikanischen Ländern und aus indischen Tempeln und als Höhepunkt – einen echten Schrumpfkopf! Was unausgesprochen im Raum steht, ist, wie glücklich uns das gemacht hat. Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass vieles, was wir einmal gelernt haben, heute nicht mehr gilt. Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass wir noch nicht herausgefunden haben, was an die Stelle, an die leere Stelle, treten kann.