Elephants in Rooms – Monitor 11

Lynn Fu (New York – O-Ton: Englisch)

Hey, schon mal von der Verbotenen Stadt gehört? Genau, die Verbotene Stadt in Beijing, in China. Ich habe sie vor ungefähr 15 oder 20 Jahren besucht. Ich erinnere mich sehr gut daran, weil es mein erster Besuch war in der Hauptstadt. Hast du gewusst, dass die chinesische Königsfamilie tausende oder hunderte Jahre in der Verbotenen Stadt gelebt hat? Ziemlich lange jedenfalls. Mich hat der Besuch sehr beeindruckt. Am besten erinnere ich mich an die Stadtmauer – wie hoch sie war! Als ich davor stand, habe ich mich so klein gefühlt. Sie ist bestimmt um die zehn Meter hoch; definitiv hoch genug, um die Welt, die sie umfasst, von der Außenwelt hinter der Mauer abzutrennen. Ich habe seitdem in ein paar Büchern über die antiken Zeiten in China und in Korea gelesen, dass Mädchen gern geschaukelt haben. Genau wie ich… ich habe als Kind selbst auch viel Zeit auf der Schaukel verbracht. Und warum war die Schaukel so wichtig? Die Mädchen haben beim Schaukeln manchmal das Glück, am höchsten Punkt einen kurzen Blick auf die Außenwelt zu erhaschen, zu der sie sonst keinen Zugang erhalten. Denn besonders Mädchen aus höheren Gesellschaftsschichten ist es nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Der Moment, in dem sie die Welt da draußen beim Schaukeln für ein oder vielleicht zwei Sekunden gesehen haben, war also der einzige Moment von Freiheit, den sie genießen konnten. Kann man sich das vorstellen?

Wenn wir Tee trinken, reden wir nicht über Kaffee. Kaffee oder Tee ist für viele Leute offenbar eine entscheidende Frage. Für mich ist die Antwort sehr einfach. Kaffee am Morgen, Tee am Nachmittag, und abends vorm Schlafengehen trinke ich Wasser – aber nur, wenn ich tief und fest schlafen will. Wann hast du denn zum ersten Mal Kaffee oder Tee getrunken? Ich erinnere mich, dass es bei mir erst ziemlich spät war. Dass ich zum ersten Mal Kaffee getrunken habe, meine ich. Meinen ersten Tee habe ich in sehr guter Erinnerung; ich habe das noch ganz klar vor Augen. Das war bei meinem Vater auf der Arbeit. Als kleines Kind hab ich ihn dort fast jede Woche besucht. Seine Kollegen haben mir Tee eingeschenkt. Das war ein anderer als der, den sie selbst getrunken haben – einen bitteren grünen Tee. Mir haben sie eine Art Goji-Beeren-Tee gegeben. Kennst du Goji-Beeren? Das sind diese kleinen, roten, süßlichen Beeren. Sie haben mir also diesen Tee gegeben, weil ich ja ein kleines Mädchen war und nicht den bitteren grünen Tee trinken sollte. Ja, den mochte ich wirklich sehr gern. Und sie haben mir gesagt, dass er gut für die Augen ist. Ich weiß allerdings nicht, ob da wirklich was dran ist, ich habe nämlich keine besonders guten Augen.

 

Berit Stumpf (Berlin/Bayrischzell – O-Ton: Deutsch)

Ich würde euch gern was erzählen. Hört ihr zu? Es ist nämlich so: Wir waren schon immer hier. So wurde es uns zumindest erzählt. Man kann es von hier aus nicht ganz sehen, aber
es ist nicht weit – nur ein paar hundert Kilometer weiter westlich – da ist der Ort, wo unsere Geschichte begann. Es gibt keine Geschichte von uns außerhalb dieses Ortes, außerhalb dieses Landes. Und wenn es sie gibt, dann wurde sie uns nie erzählt. Es heißt, wir seien die Ersten hier gewesen – oder unter den Ersten. Über Generationen und Generationen hat es uns hier schon immer gegeben. Das halbe Dorf trägt unseren Namen.
Auch wenn es kein besonders schöner Name ist. Wir tragen ihn heute noch. Dieser Name, unser Name, stand auch über der ersten Bäckerei am Ort. Da haben wir das Brot gebacken, mit dem quasi das ganze Dorf ernährt wurde – auch im Krieg. Da haben wir es auf Karren geschnallt und in die Stadt gezogen, als die Lebensmittel knapp wurden, und dort gegen kostbare Güter wie Zucker und Kaffee eingetauscht. Wir haben alles überlebt. Wir haben das Dorf damals mit eigenen Händen aufgebaut, unsere Häuser gebaut. Und als alles kaputt war und zerbombt und in Schutt und Asche lag, da haben wir es wieder aufgebaut. Wir sind nicht kaputt zu kriegen. Unser Name ist wie ein Messer, dem die Schärfe abhandengekommen ist: Stumpf – so heißen wir. Wir sind ziemlich zäh und hart gesotten. Und vielleicht ein bisschen grobschlächtig. Es gibt auch einige Schlachter unter uns. Wir können töten. Ja, manche würden sagen, dass wir nicht besonders empfindsam sind. Wir sind uns selbst die Nächsten. Alle, die hier wohnen, sehen so aus wie wir. Wir kennen es nicht anders. Fast nie ist jemand von uns weggegangen. Es gab keinen Grund dafür. Das Selbstverständnis, dass wir hierhergehören und dass es daran keinen Zweifel gibt, wurde uns in die Wiege gelegt. Wir mussten nie fliehen. Waren wir wirklich die Ersten, die genau das nicht mehr ausgehalten haben, die wussten, wir müssen hier raus? Aber – sind wir wirklich gegangen? Oder sind wir immer noch hier?

Ich werde mich jetzt fertig machen und versuchen, genau das richtige Maß zu finden. Nicht zu viel und nicht zu wenig.

Tee! Tee! Ich bräuchte einen Tee, bitte! Es bringe mir jemand Tee!

Von hier aus, von meiner Wohnung hier, im ersten Stock, kann ich den Himmel sehen, den Himmel über Berlin. Wie weiß und farblos er heute ist.
Ich kann unsere Straße hinuntersehen, wo inzwischen jedes Haus saniert ist, jeder Altbau. Und jede Baulücke geschlossen. Wo man sich die Wohnungen – Wohnungen wie meine hier – kaum mehr leisten kann.
Ich kann nach Norden sehen. Über meinen Nordbalkon hinweg. Auf den Neubau, der mir direkt vor die Nase gesetzt wurde, in die letzte Baulücke hinein. Manchmal laufen auf dem Dach dieses Neubaus nackte, dampfende Menschen herum, die gerade aus der Sauna kommen, die da draufgesetzt wurde. Wenn ich sie sehe, vergehe ich vor Neid.
Ich sehe dicke Autos in unserer Straße, Frauen mit schnellem und selbstbewusstem Schritt und Kinderwägen. Frauen, die wie ich hierhergezogen sind, als die Mieten noch billig waren. Ich sehe die Geste und Haltung der Erobernden um mich herum. Und frage mich, ob ich eine von ihnen bin.
Ich sehe da drüben eine Plastiktüte, die in den Ästen von diesem kahlen Baum feststeckt – schon seit Tagen.

Schnallt die Pferde an! Ich wäre soweit.
Hopp, hopp!
Spannt die Pferde vor! Ich wäre soweit.
Hopp, hopp!
Schnallt die Pferde vor! Ich wäre soweit.
Hopp, hopp!
Spannt die Pferde vor! Ich wäre soweit.
Hopp, hopp!
Spannt die Pferde vor! Ich wäre soweit.
Hopp, hopp!

 

Johanna Freiburg (Berlin – O-Ton: Deutsch)

Von da aus, wo ich stehe, sehe ich einen Geldautomaten, der vor meinem Haus neu aufgestellt wurde – einsatzbereit.
Ich sehe Autos, deren Besitzer und Besitzerinnen bereit sind, für Parkflächen zu zahlen, die hinter verschlossenen Toren sind – weil sie glauben, dass sie so ihr Eigentum schützen können.
Ich sehe eine große Lücke, wo einmal ein sehr großer Kastanienbaum gestanden hat. Eines Morgens ist er einfach umgefallen. Und ich bin von dem Geräusch des umfallenden Baumes aufgewacht.
Ich sehe mich selbst in den verspiegelten Fenstern des Bürohauses gegenüber. Und in meiner eigenen Fensterscheibe.
Während ich weiter aus dem Fenster schaue und Tee trinke, werde ich die Ungeduld in mir wachsen lassen, bis sie eines Tages so groß ist, dass sie aus mir herausbricht.

Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass uns beigebracht wurde, uns an Dingen zu erfreuen, die nicht uns gehören. Wir kommen aus einer Hafenstadt, deren Wohlstand aus fernen Ländern stammt. Als Kind haben wir sehr viele Stunden damit zugebracht, zum Zeitvertreib Schätze zu betrachten, gestohlene Schätze. Muscheln aus der Südsee, Statuen aus afrikanischen Ländern und aus indischen Tempeln und als Höhepunkt – einen echten Schrumpfkopf! Was unausgesprochen im Raum steht, ist, wie glücklich uns das gemacht hat. Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass vieles, was wir einmal gelernt haben,
heute nicht mehr gilt. Was unausgesprochen im Raum steht, ist, dass wir noch nicht herausgefunden haben, was an die Stelle, an die leere Stelle, treten kann.

 

Alice Hu (Shanghai – O-Ton: Chinesische Gebärdensprache)

Himmel. Schnee.

(Rezitiert in Gebärdensprache ein Gedicht)

Ginseng-Oolong-Tee.
Ginseng-Oolong-Tee ist weder Schwarztee noch Grüntee. Er gehört zu den zehn bekanntesten Teesorten Chinas.
Man kennt ihn auch unter dem Namen „Qing-Tee“. Seine Farbe ist grünlich-gelb. Trinke ihn nach vier Minuten Ziehzeit. Das ist eine schöne Farbe, oder? Er fördert auch die Gesundheit. Er riecht so gut. Weißt du, wieso er „Oolong“ heißt? Vor vielen Jahren hat das Teeblatt beim Trocknen in der Sonne die Form eines schwarzen Drachens angenommen: „oo long“.

Ich habe meine Taubheit immer akzeptiert.
Ich habe meine Identität immer als „taub“ akzeptiert.
Ich und die Gebärdensprache sind eins. Gebärdensprachen-Poesie.
Ich habe meine Taubheit immer akzeptiert. Gebärdensprache ist, wer ich bin.
Manchmal spreche ich im Traum Gebärdensprache, denn ich und die Gebärdensprache sind eins.

 

Sharon Smith (Holbeton, Devon – O-Ton: Englisch)

Dies ist nicht mein Fenster. Es gehört mir nicht. Genauso wenig wie das Haus oder das Land, auf dem das Haus steht. In dem Garten dort unten darf ich zwar spielen, aber auch der gehört mir nicht. Das gesamte Land, das ich von hier aus sehen kann und auch das Land darüber hinaus, ist im Besitz einer Familie, seit Hunderten von Jahren – tatsächlich etwa seit dem 17. Jahrhundert, als die Mayflower, ein sehr berühmtes Schiff, von dort drüben hinter den Bäumen über den Atlantik nach Amerika aufbrach. Dieser Tag, an dem sie ins Abenteuer aufgebrochen sind, wird hier gefeiert. Denn diese unbekannten, noblen und tatkräftigen Leute, die davon, wie es war, die Nase voll hatten, sagten radikal entschlossen: „Schluss jetzt! Es reicht! Wir gehen fort!” Und dann sind sie los: Reisende, Forschende, Erobernde, Helden und Heldinnen… Sie landeten an einem Ort, den sie meinten, entdeckt zu haben. So war es aber nicht und schließlich mussten sie die Menschen, die dort lebten, vertreiben. Die Einheimischen haben ihnen ihre Hilfe angeboten, doch anstatt sich erkenntlich zu zeigen, haben die Eindringlinge den Männern die Kopfhaut abgezogen und die Frauen und Kinder verkauft. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Dieses Land hat reichlich vom Sklavenhandel profitiert. Devon, so heißt diese Gegend hier, war tatsächlich eine gängige Bezeichnung für Sklaven.

Ich sehe, dass man Dinge bewahrt.
Ich sehe, wie man sich bemüht, alles beizubehalten.
Ich sehe Zugehörigkeit.
Und Privatsphäre.
Und ich sehe einen herannahenden Sturm.

Oh, hinter dir auf dem Pferd zu sitzen.
Oh, hinter dir auf dem Pferd zu sitzen.
Was würde ich nicht dafür geben, hinter dir auf dem Pferd zu sitzen!

 

July Yang (Nantou, Shenzen – O-Ton: Kantonesisch und Suzhou Dialekt)

Da draußen auf der Einkaufsstraße, dieses traditionell aussehende Dach, das ist gar nicht alt, sondern nur auf alt gemacht. Und diese Bäume hängen alle an Schläuchen, die sie ernähren. Sie wachsen nicht aus der Erde, sondern auf Bauschutt. Wo sollen da auch die Nährstoffe herkommen? Ohne die Schläuche würden die Bäume sterben. Auch die Häuser sahen früher anders aus. Als sie noch in Privatbesitz waren hatten die Fassaden farbenfrohe Mosaike oder Kacheln. Doch seit die Häuser von großen Bauunternehmen übernommen wurden, wurde ein einheitlichen Stil eingeführt und nun zeigen sie sich nur noch so: grau-weiß, fad, austauschbar.

Wenn wir Tee trinken, reden wir nicht darüber, was wir in uns aufnehmen. Zum Beispiel: verarbeitete Lebensmittel. Was ist da eigentlich drin und wo stammt das her? Keine Ahnung. Und wie sieht es mit Obst und Gemüse aus? Wie wird das angebaut und von wem? Und woher kommt das Fleisch? Wer hat die Hühner, Kühe und Schafe aufgezogen? Keine Ahnung. Klar, irgendwas dazu steht hier auf der Packung, aber was sagt das schon aus? Wir produzieren jeden Tag so viel Müll. Wo bleibt der am Ende? Er landet auf der Mülldeponie, und danach?
Und alle wollen unsere Daten. Selbst wenn man sich etwas zu essen bestellt, muss man zustimmen, dass die persönlichen Daten verwendet werden. Und wir stimmen zu. Aber was passiert mit unseren Daten? Plötzlich bekommst du Anrufe von Fremden, die deinen Namen, deine Adresse und deine Personalausweisnummer kennen. Es ist natürlich bequem: „Ich stimme zu“, „Ich stimme zu“, „Ich stimme zu“. Und überall gibt es heute Sicherheitskontrollen. In U-Bahnen, Zügen, in Museen. Und man lässt all die Kontrollen über sich ergehen. Sind die eigentlich wirklich legal? Was geben wir im Namen der Sicherheit und der Bequemlichkeit alles auf?
Ach ja, und was den Müll angeht, es sind die Müllleute, die unsere Stadt sauber halten. Alle anderen machen einen großen Bogen um die Müllstationen. Aber die dort arbeiten: Wie riechen die?
Und dann noch diese Frage: Kommt mein Cousin wirklich nach seinem Vater? Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen. Jetzt geht er schon auf die Uni und niemand erwähnt es mehr.
Und auch das Versprechen, das man Hongkong 1997 gemacht hat: dass der Lebensstil „in den nächsten 50 Jahren so beibehalten wird“ – hat man das nicht schon längst gebrochen?

Wusstest du, dass das Kantonesisch, das ich spreche, ganz anders ist als Putonghua, Wu, Minnan und Hakka? Das sind alles chinesische Sprachen, aber sie unterscheiden sich deutlich in Aussprache, Grammatik und Wortschatz. Und trotzdem denkt man bei Chinesisch nur an eine Sprache. Ich spreche Kantonesisch, Putonghua und Wu und gelte nicht als mehrsprachig. Jemand, der Französisch, Spanisch und Portugiesisch spricht, hingegen schon? Die meisten Menschen in China sehen selber Afrika als Einheit. Wir reden auch von „unseren afrikanischen Brüdern“, „afrikanischen Kindern, die Hunger leiden“, „dem armen Afrika“. Wow, als wären Länder wie Äthiopien, Südafrika und Somalia alle gleich. Sind sie nicht. So viele verschiedene Stämme, Kulturen und Sprachen, die nicht zählen. Es ist als ob, wer dunkle Haut hat, automatisch aus Afrika kommen muss, auch wenn es vielleicht jemand aus den USA oder Europa ist. Aber du bist nun mal unser afrikanischer Bruder. Weil du Schwarz bist. Wenn hingegen jemand aus Südafrika kommt und weiße Haut hat, geht umgekehrt niemand davon aus. Wusstest du, dass in China bis heute Weiß als Hautfarbe bevorzugt wird? Warum ist das so? Woher kommen diese Vorurteile?